Von Thorsten Groß aus dem Buch Diklusive Lernwelten (CC BY-SA 4.0)
Studierende wie Referendar:innen bringen bereits unterschiedliche Vorerfahrungen mit zahlreichen digitalen Tools für den Präsenzunterricht ebenso wie für das Distanzlernen mit. Bei der Fülle von möglichen Tools sollten Seminare deshalb auch theoriebasiert Orientierung hinsichtlich der Fragen vermitteln, in welchen Phasen des Lernprozesses welche Tools geeignet sind und welches didaktische Potential sie beinhalten.
Im Folgenden wird eine Seminarsitzung vorgestellt, die mit Studierenden im Praxissemester und mit Referendar:innen erprobt wurde:
Das AVIVA-Modell
Mit dem AVIVA-Modell existiert eine kompetenzorientierte Phasenstruktur für die Unterrichtsplanung, die auch für die Strukturierung digitaler Lernprozesse hilfreich erscheint und vielen Lehramtsstudierenden bereits aus Seminaren bekannt ist. Es bietet sich an, die fünf Phasen daraufhin zu untersuchen, wie ihre Funktion im Lernprozess durch digitale Tools abgebildet oder erweitert werden kann.
A – Ankommen und Einstimmen: Der Unterrichtsbeginn hat – insbesondere in sonderpädagogischen und inklusiven Settings – die Aufgabe, günstige motivationale und emotionale Voraussetzungen für den Lernprozess (wieder-)herzustellen. Es wird als Arbeitsbündnis zwischen Lehrkräften und Lernenden bezeichnet, das zu Beginn des Lernprozesses immer wieder aktualisiert werden muss. Im Präsenzunterricht geschieht dies beispielsweise durch Rituale, die eine Struktur und eine günstige Lernatmosphäre schaffen. Dieses Arbeitsbündnis ist insbesondere in Distanzlernprozessen fragil. Werden Lernangebote als (analoge oder digitale) Lernpakete oder Lernpfade gestellt, so erscheint es als wesentlich, zu Beginn des Lernangebots ein Beziehungsangebot zu machen. Im E-Learning wäre dies beispielsweise durch eine aufgezeichnete Audio- oder Videobotschaft der Lehrkraft möglich, welche die Schüler:innen zunächst auf einer persönlichen Ebene anspricht, bevor sie zu den Inhalten überleitet. Findet Unterricht als Videokonferenz statt, so sollte auch hier nach digital umsetzbaren Ritualen gesucht werden.
V – Vorwissen aktivieren: Lernen findet in einem konstruktivistischen Verständnis immer dergestalt statt, dass neue Inhalte mit dem Vorwissen verknüpft werden und neues Wissen damit aktiv konstruiert wird. Daher ist zu Beginn des Lernprozesses eine Einordnung und Kontextualisierung erforderlich, etwa durch die Konstruktion eines kognitiven Widerspruchs oder eines Lernproblems, das daraus entsteht, dass eine neue Fragestellung sich noch nicht mit dem Vorwissen beantworten lässt. In Präsenz hat diese Phase immer auch eine diagnostische Funktion, da die Lehrkraft hier Erkenntnisse über die Vorkenntnisse und mögliche Fehlvorstellungen von Lernenden erhält. Im Distanzlernen ist diese Phase ebenso erforderlich, jedoch ist hier eventuell die unmittelbare Rückkopplung mit der Lehrkraft erschwert.
In der Umsetzung bieten sich für Schüler:innen, die über Schriftsprache verfügen, beispielsweise Tools an, mit denen sie ihr Vorwissen in einer Mindmap erfassen können. Aufgaben ohne Schriftsprache können z.B. darin bestehen, dass Schüler:innen im Distanz- oder im Präsenzunterricht mit digitalen Endgeräten Fotos vom Unterrichtsgegenstand aufnehmen und sammeln. Im Sachunterricht könnten sie zum Beispiel die Aufgabe erhalten, Frühblüher in ihrer Umgebung zu suchen und zu fotografieren. Die Fotos können dann in einer Lernplattform gesammelt werden.
I – Informieren: Im nächsten Schritt werden neue Informationen entweder von der Lehrkraft präsentiert oder von den Lernenden selbst gesammelt. Ersteres kann in digitalen Lernsettings beispielsweise durch Erklärvideos oder aufgezeichnete Präsentationen geleistet werden, für letzteres bietet das Internet frei zugängliche Informationen, für deren Nutzung die Schüler:innen gegebenenfalls erst die notwendigen Methodenkompetenzen erwerben müssen und ein Scaffolding benötigen.
V – Verarbeiten: Die so gesammelten Informationen werden nun mit dem aktivierten Vorwissen in Verbindung gesetzt, beispielsweise um eine gemeinsame Problemfrage zu beantworten. Digitale Medien erweitern hierbei das Spektrum möglicher Präsentationsformen erheblich, so könnten Schüler:innen beispielsweise einen Podcast aufnehmen, ein Erklärvideo selbst erstellen oder Lernplakate digital mit Tools wie Padlet oder Flinga gestalten. Gerade die beiden letztgenannten Tools eignen sich auch im Distanzlernen, um kooperativ in kleinen Gruppen Ergebnisse zu erstellen.
A – Auswerten: Diese Phase dient dazu, Ergebnisse zu präsentieren, zu diskutieren und Feedback zu geben, aber auch, den gemeinsamen Lernprozess zu reflektieren. Findet Distanzlernen asynchron statt, könnte hier beispielsweise eine Peer-Feedback-Funktion genutzt werden, wie sie in Lernmanagement-Systemen wie itslearning vorhanden ist. Gleichzeitig zeigen sich nach Auffassung des Verfassers hier aber auch Grenzen des asynchronen Distanzlernens – eine Diskussion in einem Internetforum ist nicht gleichwertig mit einer Diskussion, in der sich die Beteiligten (zumindest virtuell) in die Augen sehen können.
Die Darstellung zeigt, dass sich das AVIVA-Schema neben der Unterrichtsplanung auch eignet, um den zeitlichen Ablauf von digitalen und Distanz-Lernprozessen zu strukturieren und um digitale Tools nach möglichen Zeitpunkten für ihren Einsatz zu sortieren.
Das SAMR-Modell: Vier Qualitätsstufen der Nutzung digitaler Medien im Unterricht
Neben dieser zeitlichen Struktur stellt sich die Frage der Qualität von digital gestalteten Lernprozessen. Eine Orientierung kann hier das SAMR-Modell nach Puentedura geben, das vier Qualitätsstufen der Nutzung digitaler Medien im Unterricht diskutiert.
Substitution: Auf der ersten Stufe der Umsetzung ersetzen technische Hilfsmittel bisherige Unterrichtsmedien, ohne dass dabei eine funktionale Verbesserung gegeben ist. Allein die Repräsentation ändert sich, wenn beispielsweise ein Buch auf dem Tablet statt auf Papier gelesen wird, oder wenn Schüler:innen im Distanzunterricht ein eingescanntes Arbeitsblatt per E-Mail statt per Post erhalten.
Augmentation: Fast bei allen digitalen Tools zeigt sich, dass selbst wenn sie lediglich eine zuvor auf Papier gestellte Aufgabe ersetzen, auch ein funktionaler Zugewinn vorhanden ist. Wenn Schüler:innen einen Text mit einem Textverarbeitungsprogramm verfassen, können sie ihn beispielsweise immer wieder überarbeiten oder eine Rechtschreibprüfung verwenden, was beim Arbeiten mit Papier und Stift nicht möglich wäre. Ähnliches gilt, wenn Arbeitsblätter in bearbeitbarer statt gescannter Form vorliegen, oder Texte als Hypertext aufbereitet werden. Dennoch bleiben bei diesem Einsatz digitaler Medien die Aufgabenformate zunächst unverändert, sodass der Zugewinn hier auf einer eher methodischen Ebene liegt und weniger auf der didaktischen Ebene.
Modification: Aufgaben werden so umgestaltet, dass sie den Einsatz digitaler Medien erfordern und dass deren Möglichkeiten explizit genutzt werden. Wenn eine Klasse im Fremdsprachenunterricht per E-Mail oder Chat mit Native Speakers in Kontakt tritt, entstehen beispielsweise reale Kommunikationsanlässe, die ohne Medien nur schwer möglich wären.
Redefinition: In der höchsten Entwicklungsstufe entstehen Aufgabenformate, die ohne den Einsatz digitaler Medien undenkbar gewesen wären. Digitale Simulationen oder digitale Medien, die von Schüler:innen selbst als Produkt des Unterrichts erstellt werden, sind an dieser Stelle als Beispiele zu nennen.

Zum Weiterlesen
Wie können Schüler:innen im Unterricht eingebunden werden und unabhängig von eventuellen körperlichen Einschränkungen die gleichen Bildungschancen bekommen? Diese Fragen beantwortet das Buch Diklusive Lernwelten mit vielen Erfahrungsberichten und Anwendungen direkt aus der Praxis!
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