Von Kathrin Stoffregen (@MrsStoffregen) aus dem Buch Hybrid-Unterricht 101 (CC BY-SA 4.0)
In der Schule werden immer wieder „Klassenarbeiten“ geschrieben – schriftliche Leistungsnachweise, die unter Aufsicht mit Zeitvorgabe erbracht werden, auch z.B. Schulaufgabe oder Schularbeit genannt.
In Wikipedia findet sich folgender Anspruch: „Klassenarbeiten sind Leistungskontrollen und eine anspruchsvolle Klassenarbeit sollte nicht nur darauf ausgerichtet sein, reines Faktenwissen abzuprüfen, sondern es sollte auch verlangt werden, dass bestimmte Tatbestände anwendungs- und problemorientiert zu verarbeiten sind. Das Hauptziel solcher Aufgabenstellungen besteht darin, außer den Kenntnissen und Fertigkeiten auch das Problemlösungsverhalten der Schüler zu überprüfen und zu beurteilen. In Klassenarbeiten werden größere Lerneinheiten abgefragt, die den Stoff der vergangenen Schulstunden beinhalten“ (Vergleiche hierzu: LE07a (letzter Zugriff 13.06.2020; 15:00)). In den meisten (Neben-)Fächern wird mindestens eine bis drei Klassenarbeiten pro Halbjahr verlangt, die dann gemeinsam eine „schriftliche“ Note bilden. Somit ergibt sich der hohe Stellenwert der Klassenarbeiten in der Schule, nicht zuletzt auch in der Vorbereitung auf Abschlussprüfungen.
Diese Form von Leistungsnachweis kann auch digital gestellt bzw. erbracht werden. Dies geschieht bereits digital vermehrt im universitären Bereich, indem sich die Studierenden bestimmte Programme runterladen müssen und während der Klausur zu Hause digital von jemandem überwacht werden (Vergleiche hierzu: LE07b (letzter Zugriff 11.06.2020, 19:40)). Dieser zeitliche und personelle Aufwand ist im schulischen Alltag nicht zu leisten. Vor allem, wenn der Anspruch der Klassenarbeit eher im Problemlösen und der Anwendung von Wissen und Kompetenzen liegen soll, siehe oben.
Die reine Übertragung des Analogen in die digitale Arbeit führt zu einem Problem, das bei analogen Arbeiten nur marginal eine Rolle spielt: das Plagiat – abgucken, schummeln, spicken und betrügen sind von den Klassenarbeiten nicht zu trennen. Die Motivation der Schülerinnen und Schüler ist oft eine Mischung aus Versagensangst, Überforderung, schlechtem Lern- und Zeitmanagement und oft auch der Überzeugung, dass die Lehrkräfte dies nicht merken würden, ein Anteil ist vermutlich auch die Herausforderung, „sich nicht erwischen zu lassen.“
Daher kennen Lehrkräfte die stundenlangen Besprechungen, wo die Mobiltelefone zu lagern sind, wer vorher die WCs kontrolliert und wie mit Digitalen Uhren o.ä. umzugehen sei… Die Grundidee der Klassenarbeit war es schließlich bisher, dass die Schülerinnen und Schüler ohne fremde Hilfe ihr erworbenes Wissen und Kompetenzen unter Beweis stellen sollen, am besten handschriftlich und in Echtzeit.
Aus heutiger Sicht und noch mehr in Zeiten des Distanzlernens muss hier ein Umdenken stattfinden – bei den Lehrkräften, in der Planung & Anlage der Tests und auch bei den Schülerinnen und Schülern, die Klassenarbeiten durchaus als Herausforderung verstehen sollen, jedoch als Herausforderung an die eigene Leistung und nicht an die Fähigkeiten, „gewitzter“ als die Lehrkraft zu agieren.
Dazu sind bestimmte Fragen wichtig, die eine Lehrkraft VOR der Planung für sich beantworten muss:
- Warum bewerte ich diese Aufgabe?
- Was genau sollen die Schülerinnen und Schüler zeigen / tun/ unter Beweis stellen?
Daraus ergibt sich folgerichtig die Anlage der Aufgabenstellung.

Wie entwickelt man eigentlich zeitgemäße Prüfungen, wenn man doch alles ‚googlen‘ kann – vor allem als Schüler:in im Distanzunterricht?!
Mehr zu dem Thema hat Kathrin Stoffregen uns aus ihren 16 Jahren Unterrichtserfahrung in Geschichte und Englisch im Podcast eduBlurbs erzählt.
Beispiele lassen sich sicherlich für alle Fächer finden. Grundsätzlich sollten sich die Lehrkräfte darüber Gedanken machen, dass Klassenarbeiten im Distanzlernen MIT Hilfsmitteln geschrieben werden und es daher darauf ankommt, die Aufgaben entsprechend zu konstruieren. Dabei bedarf es nicht anderer Operatoren oder Methoden, sondern vor allem der Akzeptanz, dass die Schülerinnen und Schüler eben bestimmte Hilfsmittel zur Verfügung haben. Dahingehend kommen die Fragen vom Anfang wieder ins Spiel, vor allem die Frage, was ich eigentlich abprüfen will?
Im Grunde genommen kommen wir im Distanzlernen eher zu Formaten, die aus dem Studium bekannt sind: längere Zeitvorgaben, mehr Freiräume beim Ergebnis und die Hilfsmittel sind erlaubt, müssen aber angegeben werden. Künftig wichtige Aspekte in der Gestaltung und Bewertung von Aufgaben müssen also genau dies abbilden:
- Welche Technik steht den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung und womit kennen sie sich aus?
- Wieviel Zeit räume ich den Schülerinnen und Schülern ein?
- Wie soll das fertige Produkt aussehen? Essay, Präsentation, Video, Podcast etc.
- Welche Quellen stellen ich den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung bzw. gebe ich Hilfestellung bei der Auswahl der Quellen („Wikipedia ist keine Quelle!“)
- Wie sollen die Quellen zitiert werden?
Gerade die Quellen werden somit zum Dreh- und Angelpunkt der Ausarbeitung durch die Schülerinnen und Schüler – es können literarische Originaltexte sein, aber auch z.B. in der Politik Referenzen aus Gesetzestexten, chemische Versuche als Video, geographische Daten und physikalische Phänomene, die durch Internet, Apps und Co. heute oftmals 24/7 zur Verfügung stehen und vielfach ansprechender aufbereitet sind als in herkömmlichen Schulbüchern. Gerade im Umgang mit den Quellen zeigt sich auch die Chance zur Individualisierung und Förderung, wenn die Quelle eben vielfach gelesen werden kann/ übersetzt werden kann o.ä. Das Verständnis und die Lernleistung des Einzelnen zeigt sich dann auch darin, ob sie/er z.B. mit dem Ergebnis von Google Search zielführend arbeiten kann.
Für die Schülerinnen und Schüler kann hier im Vorfeld ein Bewertungsraster (Rubic) hilfreich sein, in dem die oben genannten Fragestellungen als Kategorien fungieren. Dieses Rubic dient einerseits während der Bearbeitung als Checkliste und andererseits bei der Bewertung als Grundlage. Die Leistungsbewertung in diesen neuformatigen Klassenarbeiten ist mit einem herkömmlichen Erwartungshorizont (zum Teil zum Abhaken) nicht zu vergleichen. Ganz im Sinne der Idee der Problemorientierung kann und sollten hier auch der Prozess und das Produkt mit in die Bewertung einfließen.
Die Arbeit mit diesen Rastern bietet zudem eine gute Grundlage für einen weiteren Aspekt, der bei „neuartigen“ Klassenarbeiten eine Rolle spielen sollte – die Bearbeitungsphase (Peer Editing). Wenn sowieso Hilfsmittel erlaubt sind, liegt es nahe, dass vor der endgültigen Abgabe die Schülerinnen und Schüler angehalten werden, sowohl ihre eigene Arbeit Korrektur zu lesen, als auch sich Unterstützung zu suchen – ein Teil des Bewertungsrasters könnte/sollte also sein: „Schick‘ Dein Essay/Produkt einer/m MitschülerIn und hole Dir ein Feedback (zur Rechtschreibung) ein.“ Damit erweitert sich die Bewertung um den Aspekt der Kooperation und stärkt gleichzeitig das gemeinsame Verantwortungsgefühl für den Lernerfolg der gesamten Gruppe. Später können Leistungsmessungen auch komplett kooperativ gestaltet werden, seien es Videos, Interviews oder auch Dokumente, die gemeinsam per Etherpad erstellt werden.
Als Prozess lässt sich diese Erstellung von Aufgaben als Aufbruch aus dem „command & control“ der bisherigen Klassenarbeiten („Tische leer, Hefte raus!“) hin zu einem herausfordernden Lernen und der hohen (hehren?) Erwartung (dem Wunsch), dass die Schülerinnen und Schüler aktive Verantwortung für ihre Lernergebnisse übernehmen. Gerade in der Mittelstufe (und der Zeit der Pubertät) ist es hilfreich, wenn die Schülerinnen und Schüler bewusst z.B. auswählen können, welche Lernprodukte sie erstellen (Vergleiche Kapitel 2 in The Power of the Adolescent Brain: Strategies for Teaching Middle and High School Students, Thomas Armstrong, Alexandria 2016). Denn die neuronale Neuordnung im Gehirn forciert eben diese Beteiligungsbedürfnisse.
Ein weiterer Aspekt der digitalen Leistungsmessung kann die Veröffentlichung bzw. die Vorstellung der Lernergebnisse vor der / in der (Schul-)Öffentlichkeit darstellen. Denn die Produkte aus der neu-gedachten digitalen Leistungsmessung eignen sich auch verstärkt zur Präsentation. Wenn die Podcasts, Videos, Interviews und Präsentationen zusätzlich einem Publikum gezeigt werden, stärkt dies wieder die Selbstwirksamkeit der Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Verantwortung für das Produkt.
An vielen angelsächsischen Schulen sind „Learning Celebrations“ ein gängiger Programmpunkt im Jahreskalender, zu dem Angehörige oder auch andere Klassen eingeladen werden und dann Arbeitsergebnisse präsentiert bekommen. In der deutschen Schultradition und in der Hektik des Alltags wirkt dies zunächst abwegig und nach zu viel Effekthascherei und findet häufig nur im Grundschul- oder Reform- / Privatschulbereich statt, aber langfristig sind sie eine Möglichkeit die Schule zu öffnen und die Motivation zu steigern. Solche Angebote sind häufig schon mit kleinem Aufwand zu betreiben, z.B. einen Schaukasten zu einem Thema gestalten (mit vorher bewerteten Postern), auf der Schulhomepage die erstellten Videos präsentieren oder auch um 8 Uhr zu nur 30 Minuten Kurzpräsentation die Eltern einladen, sich vor der Arbeit eine Präsentation anzusehen.
Im Ausblick auf das kommende Schuljahr in Deutschland darf man den Schulen vor allem Mut wünschen, sich auf den Weg zu machen, neue Aufgabenstellungen auszuprobieren und sich gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern darauf einzulassen. Langfristig kann es dann eine Kombination aus „klassischer Klassenarbeit“ und Produkten bzw. digitalen Aufgaben geben, die in Summe dann die schriftlichen Lernzuwächse und Leistungen der Schülerinnen und Schüler abbilden.