Von Flavio Carrera aus dem Buch Scrum in die Schule! (CC BY-SA 4.0)
Marwin-Tristan soll einen Vortrag halten. Gemeinsam mit seiner Sitznachbarin Jovita. Er investiert Stunden in die Recherche, bemüht sich den Vorgaben seiner Lehrerin zu Gestaltung und Layouting der Folien und inhaltlichem Aufbau gerecht zu werden, lässt den Text von seiner Mutter korrigieren, trifft sich mehrmals mit Jovita und die beiden schauen sich Lernvideos zum Thema an. Dann kommt der Tag, an dem die beiden ihre Präsentation halten. Sie dauert 10 Minuten, wie vorgegeben, und gelingt sehr gut. Oder das denken zumindest die beiden.
Die Lehrerin gibt ihnen eine 4,5. Sie lobt die Folien, kritisiert den Inhalt. Der Vortrag gehe am Thema vorbei, der rote Faden sei nicht immer klar erkennbar, Jovita spreche zu leise, Marwin-Tristan lese zu viel ab. Die Zwei sind enttäuscht. Das ausführliche Bewertungsblatt werfen sie ins Altpapier, die Folien löschen sie von ihren Computern, ihren Eltern verschweigen sie wie’s gelaufen ist. Zusammen arbeiten werden Jovita und Marwin-Tristan nicht mehr.
Scrum vs. Wasserfall
In seinem neuesten Buch «Scrum: The Art of Doing Twice the Work in Half the Time» verspricht der Erfinder von Scrum, Jeff Sutherland, eine massive Erhöhung der Effektivität von Arbeitsprozessen, wenn ein häufig auftretendes Problem behoben wird, nämlich dass der Fokus in der Produktentwicklung zu stark auf die Planung gelegt und erst viel zu spät Feedback von jenen Personen eingeholt wird, die die Produkte letztlich nutzen sollen. Diese Art des planungs-zentrierten Vorgehens wird als «Wasserfallmodell» bezeichnet, weil die verschiedenen Phasen der Projektentwicklung kaskadenartig aufeinander folgen und das Ergebnis einer Phase die jeweils nächste Phase einleitet. Das Problem einer solchen Arbeitsweise ist offensichtlich:
“You might be heading completely in the wrong direction for months and not suspect it.“
Dem Wasserfallmodell stellt Sutherland als Alternative «Scrum» gegenüber. In Scrum laufen die Phasen nicht linear, sondern iterativ ab, das heißt Verbesserungen werden schrittweise durchgeführt und Feedback wird so rasch wie möglich eingeholt, indem man das Produkt bereits in rudimentären Vorstufen von Kund:innen testen lässt.
“The sooner you give things to your customers, the quicker they can tell you if you’re making something they need.“
In Scrum wird in sogenannten Sprints gearbeitet, das sind kurze Zeiteinheiten von wenigen Wochen, im Zuge derer ein Produkt ständig weiterentwickelt, getestet und optimiert wird. Innerhalb eines Sprints durchläuft ein Produkt immer wieder von Neuem vier Phasen:
- Eine Phase der Planung
- Eine Phase der Ausführung
- Eine Phase der Überprüfung
- Eine Phase der Anpassung
Das Durchlaufen dieser Phasen in der Entwicklung eines Produktes führt dazu, dass eine schnelle und agile Anpassung an komplexe und sich wandelnde Umstände und Anforderungen möglich ist. Der Leitsatz, nach dem sich diese Art der Arbeit richtet, lautet in den Worten Jeff Sutherlands: Fail fast so you can fix early. Durch die so erlangte «Wendigkeit» im Arbeitsprozess sind Unternehmen, die nach Scrum arbeiten, jenen, die das Wasserfallmodell praktizieren, in einem komplexen und dynamischen Kontext überlegen.

Warum Scrum an Schulen?
So wie viele Arbeitsprozesse in Unternehmungen, ist auch der Unterricht an Schulen in aller Regel nach dem Wasserfallmodell konzipiert. Zumindest insofern überhaupt ein Produkt erarbeitet wird. Im produkt- oder projektorientierten Unterricht liegt der Schwerpunkt meistens auf der gründlichen Planung und Erarbeitung eines Produkts. Feedback-Zyklen werden kaum durchlaufen und von Iteration kann keine Rede sein.
Das eingangs beschriebene Fallbeispiel veranschaulicht das damit verbundene Problem: Vom Zeitpunkt der Auftragserteilung bis zur Produktabgabe – hier der Vortrag – holen die Schüler:innen kein Feedback ein. Zumindest nicht von jener Person, die das Produkt in Auftrag gegeben hat. Und ist das Produkt eingereicht und die Benotung erfolgt, wird dieses auch nicht weiterentwickelt. Das Unterfangen gilt als beendet. Selbst, wenn die Lehrperson noch so detaillierte Rückmeldungen gibt, werden diese in den seltensten Fällen dazu verwendet, das Produkt zielgerichtet zu optimieren. Wozu auch? Der Vortrag wird ja kein zweites Mal gehalten.
Egal, ob es sich um einen Essay, einen Vortrag, oder eine andere Art von Projektarbeit handelt – das System krankt häufig daran, dass zwar ein detaillierter Auftrag erteilt und genaue Bewertungskriterien transparent abgegeben werden – während der selbständigen Tätigkeit sind die Schüler:innen oder Teams aber weitgehend auf sich selber gestellt. Und diese Freiheit ist selbst für Erwachsene eine Überforderung.
Was Marwin-Tristan und Jovita gebraucht hätten, damit ihr Vortrag nicht nur befriedigend, sondern ausgezeichnet ausgefallen wäre, sind nicht primär detaillierte Kriterien- und Bewertungsformulare, sondern regelmäßiges Feedback. Feedback zu ihrem Schaffen. Feedback zum Produkt. Feedback von der Lehrperson, von Mitschüler:innen, von Expert:innen und von den Eltern.

Zum Weiterlesen
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